von Gabriela Freitag-Ziegler • Früher nannte man Leute wie mich Leseratten. Seit ich lesen kann, habe ich eigentlich immer ein Buch auf dem Nachtschränkchen. Selbst einen Roman zu schreiben, ist mir allerdings bisher nicht in den Sinn gekommen. Fast hätte ich einmal einen Cholesterin-Ratgeber geschrieben, habe mich dann aber dagegen entschieden. Ich schreibe stattdessen Broschüren und Fachartikel, Texte für Webseiten oder meinen eigenen Blog.
Inhaltsverzeichnis
Atmosphäre schaffen
Sollte ich dennoch auf die Idee kommen, eine Erzählung oder einen Roman zu verfassen, würde Essen darin mit Sicherheit eine große Rolle spielen. Weil die Welt der Lebensmittel so unfassbar vielseitig ist und alle Sinnesorgane anspricht: Die Augen beim Anblick eines verlockenden Stücks Torte. Die Nase beim Duft des Gänsebratens aus dem Ofen. Die Ohren beim Biss in einen knackigen Apfel. Die Finger beim Kneten von frischem Hefeteig. Und natürlich die Zunge beim Schmecken der bittersüßen Schokolade. Darin steckt für mich ein ungeheures Potenzial, einer Geschichte Leben einzuhauchen. Genauso wie es zum Beispiel mit den Beschreibungen von Personen und Landschaften gelingt.
Figuren und Setting charakterisieren
Aber damit nicht genug. Es verbergen sich so viele Geschichten in den Gelegenheiten, in denen jemand allein oder in Gesellschaft isst. Oder eben nicht isst, weil die Vorratskammer leer oder der Hals wie zugeschnürt ist. Spielt ein Roman in der Vergangenheit, kann ich durch den Blick in die Küchen und Töpfe meiner Figuren, in die Läden, in denen sie einkaufen, und in die Gewohnheiten bei Tisch eine Vorstellung von ihrer Welt vermitteln. Spielt er in der Gegenwart, erkenne ich mich als Leserin möglicherweise in den Vorlieben der Vegetarierin wieder und schüttele über den hemmungslosen Fleischesser den Kopf – oder anders herum.
Ein Geschichtenanfang
Ein kleiner Versuch: Die Heldin meiner Geschichte würde vielleicht frühmorgens mit nackten Füßen über das taufeuchte Gras in ihrem Garten laufen und sich einen Apfel für die Frühstückspause pflücken. Denn es ist Spätsommer und in diesem Jahr biegen sich die Äste des Apfelbaums unter ihrer Last: Viele kleine, grasgrüne Äpfel, die so sauer sind, dass sich beim Reinbeißen der Mund zusammenzieht. Aber meiner Heldin gefällt das. Vielleicht backt sie später einen Apfelkuchen und erinnert sich daran, wie sie früher ihrer Oma dabei geholfen hat. Wie sie dabei natürlich die Teigschüssel ausschlecken oder mit den Resten vom Mürbeteig ein paar Kekse formen durfte.
Okay, ich gebe es auf und überlasse die Bühne den Profis. Dazu habe ich in ein paar Bücher von meinem Nachtschränkchen und aus meinem Bücherregal geschaut und bin direkt fündig geworden.
Fantastische Steaks
in "Über Menschen" von Juli Zeh
Werbetexterin Dora ist vor Corona und allen möglichen Arten von Frust aufs Land geflohen und hat sich dort ein Haus gekauft. Nun kämpft sie nicht nur damit, ein Kartoffelbeet in ihrem riesigen Garten anzulegen, sondern auch mit den Dorfbewohnern, die sich so schlecht in ihr Schwarz-Weiß-Bild einordnen lassen. Allen voran ihr Nachbar Gote, der sich selbst als „Dorf-Nazi“ bezeichnet und sie nach und nach in seinen Bann zieht, zum Beispiel in dieser Szene:
Gote bringt ein dreibeiniges Gestell mit Ketten und einem großen Rost, der aussieht wie aus einem Mittelalterfilm. Er stellt das Gerät über die Feuerstelle, während Franzi [Gotes kleine Tochter] das weiche Fleischpaket heranbringt, das Dora mittags in Wandow gekauft hat. Mit bloßen Händen legt Gote die Steaks auf den Grill und benutzt zum Umdrehen eine Gabel. … Die Steaks sind phantastisch, besser als alles, was Dora in letzter Zeit gekocht hat, wahrscheinlich sogar besser als das meiste, was man in Berliner Restaurants bekommt. Das Fleisch ist saftig, die Marinade schmeckt nach Knoblauch und Rosmarin. Sie sitzen zu dritt auf dem Holz-Wolf in spe, balancieren die Teller auf den Knien und säbeln große Stücke von den Fleischlappen, wobei sie einander mit den Ellenbogen anstoßen. Zwischendurch erhebt sich Gote und wendet die zweite Generation Steaks. Beilagen gibt es nicht. Die Salatschüssel steht unberührt auf dem Campingtisch. Gote hilft Franzi beim Schneiden und wirft die Fettränder Jochen [Doras Hündin] zu, die ihn anbetet, als wäre er der neue Messias, soeben vom Himmel herabgestiegen.
Süße Versuchung
in "Dallmayr. Der Traum vom schönen Leben" von Lisa Graf
Im Jahr 1897 beginnt diese Geschichte, die vom Aufstieg des Feinkosthauses Dallmayr in München erzählt. Auch Lehrjunge Ludwig ist hochmotiviert, hat sich unter den Augen seiner strengen Chefin aber schon zwei Verfehlungen geleistet. Gerade wurde er wieder in ihr Büro zitiert, steht vor ihrem Schreibtisch und überlegt, was er wohl dieses Mal falsch gemacht hat:
Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Er sah seine Chefin an, und ihr Blick bestätigte seine Vermutung. Die feine belgische Schokolade. Was für eine Versuchung! Er hatte dieses kleine Stück aufgehoben und es sich, ohne auch nur einmal nachzudenken, in den Mund geschoben. Und als die Schokolade begann, auf seiner Zunge zu schmelzen, das war so herrlich gewesen, dass er die Augen schließen musste. Noch nie in seinem Leben hatte er so etwas Feines gegessen. Dieser Geschmack nach Kakao und gebrannten Nüssen, ein bisschen wie auf dem Oktoberfest, wenn er zwischen den Ständen mit gebrannten Mandeln, Magenbrot, Lebkuchenherzen, kandierten Früchten, Liebesäpfeln, Zuckerwatte, Waffelbruch und Vanillesoße hin und her taumelte. Nur, dass er die Nüsse, den Kakao und was sonst noch in der feinen Schokolade war, in der Nase, auf den Lippen, der Zunge und überall gleichzeitig roch, schmeckte und sie sogar noch auf der Haut spürte, wie ein zartes Streicheln. Es war einfach unbeschreiblich.
Vornehm essen
in "Das verborgene Wort" von Ulla Hahn
Hilla wächst in der Nachkriegszeit als Arbeiterkind in einem Dorf bei Köln auf. Sie hat einen hellen Verstand und Förderer, die ihr schließlich den Weg zu einer höheren Schulbildung ermöglichen. Dazu gehören auch feine Tischmanieren, die beim Vater aber alles andere als gut ankommen:
Es gab Rinderbraten, Erbsen, Soße und Kartoffeln, als ich beim Sonntagsessen zeigte, was ich konnte. Es war nicht leicht, die Erbsen auf die Gabel und mit links in den Mund zu bugsieren, ohne dass die Hälfte wieder herunterkullerte. Das Fleisch in passende Stücke zu schneiden, dagegen ein Kinderspiel. Niemand schien mich zu beachten. Der Vater quetschte wie immer Gemüse, Kartoffeln und Soße zu einem Brei, schnitt das Fleisch klein, belud die Gabel mit hohen Haufen und schaufelte diese, den Kopf in die linke Hand dicht über den Teller gestützt, den rechten Unterarm vom aufgesetzten Ellenbogen aus kaum hebend und senkend, in den Mund, wo sie unter Schmatz- und Schlucklauten hinuntergedrückt wurden. Niemand sprach ein Wort. Ich hatte meinen Teller halb leergegessen, als plötzlich eine Hand meine Linke umklammerte. ich schrie auf, ließ die Gabel fallen.
Ach nä, höhnte der Vater und ergriff meine Gabel. Met ner Javvel ze ässe es der wall nit fürnähm jenuch. Dann broch de se jo och nit. Der Vater warf die Gabel auf den Boden, setzte den Fuß darauf. Es knirschte. Josäff, die Javvel, schrie die Mutter. Haal de Muul, sagte der Vater. Eh dä Teller hie nit leer es, steht dat Blaach hie nit op.
Stulle oder Pausenbrot
in "Die Berlinreise" von Hanns-Josef Ortheil
Der 12-jährige Hanns-Josef reist 1964 mit seinem Papa nach Berlin auf den Spuren dessen Vergangenheit. Dabei spielen natürlich auch ein paar typische Berliner Speisen bzw. Bezeichnungen dafür eine Rolle. Das geht schon los im Zug, als der Junge zum ersten Mal die Bekanntschaft von Reisenden aus Berlin macht:
„Ein älterer Mann, der besonders laut sprach, fragte mich, ob ich eine Stulle wolle. Ich antwortete, dass ich nicht wisse, was das sei. Da lachte er laut und rief den anderen, die in seiner Nähe standen, zu, ich wisse nicht, was eine Stulle sei. Ich musste mitlachen, weil er so fröhlich war, da zeigte er mir seine Stulle. Er holte sie aus seiner Tasche, wickelte sie aus hellem Butterbrotpapier und hielt sie mir hin. Sie bestand aus zwei halben Schwarzbrotscheiben, zwischen denen sich viel roher Schinken befand. Er hing an den Seiten der Brotscheiben heraus und pendelte in der Luft herum. „Das ist eine Stulle, mein Junge“, sagte der Mann. „oder wie würdest Du dazu sagen?“ Ich sagte, dass ich die Stulle ein Pausenbrot nennen würde. Da lachte der Mann noch lauter und rief den anderen wieder zu, in Köln nenne man eine Stulle ganz vornehm ein Pausenbrot, in Berlin aber nenne man es richtiger eine Stulle. Dann drückte er mir die Stulle mit den Butterbrotpapier in die Hand sagte, dass er ein Berliner sei und dass ich von ihm Berlinerisch lernen könne.
Goldgelbes Linsen-Daal
in "Tausend strahlende Sonnen" von Khaled Hosseini
Die 15-jährige Mariam wird in Kabul mit einem dreißig Jahre älteren Mann verheiratet. In dieser Szene ahnt sie noch nicht, was die Zukunft mit dem brutalen Raschid für sie bereithält. Noch lässt er sich mit einem gelungenen „Daal“ zufriedenstellen:
… servierte Mariam ihm eine Schale mit dampfendem daal und flockigem weißem Reis auf einem Teller. Es war die erste Mahlzeit, die sie für ihn gekocht hatte und Mariam fürchtete, dass sie ihr womöglich nicht gut genug gelungen war. Bei der Zubereitung hatte ihr immer noch der Schock über den Zwischenfall vor dem tandoor in den Gliedern gesteckt und den ganzen Tag über war sie in Sorge darüber gewesen, ob die Linsen denn auch die richtige Konsistenz und Farbe hatten, ob womöglich zu viel Ingwer und zu wenig Kurkuma beigegeben worden waren. Er tauchte seinen Löffel in das goldgelbe daal. Mariam hielt die Luft an. Was, wenn er enttäuscht oder verärgert wäre? Was, wenn er seinen Teller angewidert von sich schöbe? „Vorsichtig“, gelang es ihr zu sagen. „Es ist heiß.“ Raschid spitze die Lippen, pustete auf den Happen und steckte ihn in den Mund. „Gut“, sagte er. „Ein bisschen wenig Salz, aber gut. Vielleicht sogar besser als gut.“
Und deine Lieblingsszenen?
Soweit meine fünf kurzen Beispiele, die Lust auf mehr machen, richtig? Nachdem ich mich so intensiv mit dem Thema beschäftigt habe, fallen mir jetzt in jedem Buch, das ich lese, weitere Beispiele auf und lese ich die entsprechenden Abschnitte immer besonders aufmerksam.
Ich wünsche dir ebenfalls viel Vergnügen beim Aufspüren kulinarischer Textstellen und viele tolle Anregungen für deine eigene Buchidee!
Spielt Kulinarik eine Rolle in deinem Roman? Hast du andere Essens-Lieblingsszenen in Büchern? Schreib gern einen Kommentar!
Entstanden ist dieser Artikel im Rahmen der Blogwichtel-Aktion meines Netzwerks Texttreff. Blogwichteln bedeutet, dass jede Schreiberin einen Blog zugelost bekommt, für den sie schreibt – und im Gegenzug mit einem Artikel beschenkt wird. Während Gabriela Ziegler-Freitag für mich über die Kulinarik in der Literatur bloggt, berichte ich auf Birte Mirbachs Blog über das Übersetzen von Kinder- und Jugendliteratur.
Gabriela Freitag-Ziegler
Gabriela Freitag-Ziegler ist Diplom-Oecotrophologin, freie Texterin und PR-Beraterin. Auf ihrem Blog liefert sie eine bunte Mischung aus Ernährungswissen, Interviews, Buchrezensionen und gesunden Lieblingsrezepten.
Bildnachweise
Coverabbildung „Über Menschen“: Mit freundlicher Genehmigung des Luchterhand Literaturverlags
Coverabbildung „Dallmayr“: Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Coverabbildung „Das verborgene Wort“: Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Coverabbildung „Die Berlinreise“: Mit freundlicher Genehmigung des Luchterhand Literaturverlags
Coverabbildung „Tausend strahlende Sonnen“: S. Fischer Verlage
Eine Antwort
Danke für die schönen Stellen! Bei einigen Krimis, die in Frankreich spielen, wird das Thema meiner Meinung nach inzwischen überstrapaziert, aber ansonsten ist es so schön, ein Buch mit allen Sinnen genießen zu können.